Um mal das alte (vielleicht unliebsame) Thema zu reaktivieren eine ehrliche Frage:
Nehmt ihr euch noch die Zeit, einen Tonträger (egal auf welchem Medium) bis ins letzte zu erschließen, oder packt ihr ihn einfach beiseite, weil da noch 1000 neue lauern?
Es ist tatsächlich so, dass bei der Jagd nach immer mehr und noch mehr und dem Drang, ja nichts verpassen zu wollen/dürfen, die Intensität, mit der man sich einen Tonträger zu Gemüte führt, auf der Strecke bleibt. Aber ich stelle auch fest, dass es sich bei mir ein wenig normalisiert hat, ich den Platten mehr Zeit gebe und sie öfter und intensiver höre. Nicht alle, aber die Tendenz geht bei mir wieder in die richtige Richtung. Wenn ich mir vorstelle, Musikjournalist zu sein und mich permanent mit Neuerscheinungen zu beschäftigen um deren Inhalt in Worte fassen und bewerten zu müssen, es wäre für mich die Hölle. Manchmal ist der schönste Zeitraum der, wenn der letzte Ton der ersten Platte verklungen ist und man die nächste noch nicht aufgelegt hat.
Es gibt immer Alben, von denen ich zwar sage: Ich weiß, dass sie qualitativ nicht die besten des Jahres sind, aber trotzdem Alben, die mich das ganze Jahr über packen. 2019 war das die "Putzlich" von Niels Frevert. Die Musik manchmal zu nah am Schlager, aber diese Texte, die offenbar für mich und für die Trennung geschrieben wurden. Vor vielen Jahren war es die "5:55" von Charlotte Gainsbourg. Auch da: Qualitativ (mit einem vorgegaukelten Objektivismus) nicht die Platte des Jahres, aber dafür persönlich irgendwie schon. Aber natürlich hat man heutzutage, gerade wenn man mehrere Hobbys hat, nicht mehr die Zeit, alles zu erschießen. Es ist unschaffbar, irgendwas bleibt auf der Strecke.
Die letzten Sechs in der Playlist: Idles - Tangk || Klez.e - Erregung || The Last Dinner Party - Prelude to Ecstasy || Ducks Ltd. - Harm's Way || Kettcar - Gute Laune ungerecht verteilt || Tom Odell - Black Friday
Das Problem kenne ich gut. Meine Lösung (die für mich passende jedenfalls) ist simpel: künstliche Verknappung.
In den 90ern kaufte ich Unmengen von Tonträgern. Konnte mich die Musik nicht unmittelbar fesseln, ab zur nächsten Platte. Oder besser gesagt, zur nächsten CD. LPs kaufte ich immer weniger, bis es fast ausschließlich CDs waren. Ein richtiges Verwachsen mit einem Album fand nicht mehr statt. Rechts rein, links raus. Und ab zur nächsten.
Warum hatte ich auf einmal so wenige neue richtige Lieblingsalben oder neue Lieblingsmusiker? War ich zu alt geworden? Satt und überhört?
Nein, ich hatte der Musik schlicht keine Chance gegeben, sich richtig einzugraben und in der Tiefe zu wirken. Diese Zeit incl. der bei mir nötigen Hördurchgänge hatte ich früher notgedrungen geben müssen, da das Budget arg begrenzt war. Die paar Platten, die ich hatte, liefen rauf und runter.
Fazit: Ich kaufe mir seit einiger Zeit nur ein Album pro Woche und höre das zig-mal. Durch den Gang in die Tiefe sind wieder neue Lieblingsmusiker/Bands gewachsen. Zusammen mit der Konzentration auf aktuelle elektronische Musik ist meine Freude an der Sache wieder da.
Ich versuche den Reflex in möglichst viele Neuheiten reinzuhören irgendwie beizukommen und diesbezüglich gelassener zu werden ... bevor ich irgendwann noch in Therapie muss. 2019 war mir das teilweise wirklich zu viel des Guten.
Alleine deshalb kaufe ich mir schon physisch Musik, weil ich diesen Platten dann doch deutlich mehr Aufmerksamkeit schenke. Sobald was daheim herum steht, bekommt diese Musik auch die nötige Aufmerksamkeit.
Ein gekauftes Album pro Woche empfinde ich auch eher als wenig ... und zumindest einen guten Fahrplan
Manchmal habe ich das Gefühl, der victor ist gedanklich mit mir verwandt.
Die letzten Sechs in der Playlist: Idles - Tangk || Klez.e - Erregung || The Last Dinner Party - Prelude to Ecstasy || Ducks Ltd. - Harm's Way || Kettcar - Gute Laune ungerecht verteilt || Tom Odell - Black Friday
Ich habe es einfach mittlerweile aufgegeben, immer den neuen heißen Scheiß hören zu müssen. Ich kenne mich so wenig mit aktueller Musik aus wie noch nie. Allgemein höre ich momentan wieder bewußter Musik. Es gibt soviele Künstler, die ich mag, von denen ich manche Alben wirklich viel zu selten gehört habe (Tom Waits ist grad ein gutes Beispiel), daß ich lieber da meine Defizite aufarbeite, weil es sich auch für mich lohnt. Das ist kein generelles Desinteresse an neuer Musik, sondern Prioritätensetzung.
Was das begrenzte Budget früher angeht: das, was violvoic sagt.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
Zitat von DerKleineMusicFreund im Beitrag #151Um mal das alte (vielleicht unliebsame) Thema zu reaktivieren eine ehrliche Frage:
Nehmt ihr euch noch die Zeit, einen Tonträger (egal auf welchem Medium) bis ins letzte zu erschließen, oder packt ihr ihn einfach beiseite, weil da noch 1000 neue lauern?
Ich habe es mir abgewöhnt, mir ein Album so lange anzuhören, bis es sich "bis ins letzte erschlossen" hat. Alleine diese Begrifflichkeit "das muss ich mir bis ins letzte erschließen" wurde mir in den letzten Jahren immer suspekter. Das hört sich an wie "ich muss das Album Song für Song (oder von mir aus auch Track für Track) nach allen Regeln der Kunst sezieren, auseinandernehmen und wieder zusammenklauben" oder im schlechtesten Falle fast schon "schön hören" (was mir noch suspekter ist). Dafür fehlt mir mittlerweile schlicht die Zeit. Nicht deswegen, weil noch "1000 neue Alben" lauern, sondern weil meine Zeit natürlicherweise generell immer begrenzter wird, auch ohne dass (bleiben wir etwas realistischer) ein Dutzend oder mehr Alben in der Pipeline stecken.
Im Gegenzug heißt das allerdings nicht, dass ich oberflächlich höre, das habe ich noch nie getan. Ich setze halt nur Schwerpunkte, aber auch bei diesen gilt mittlerweile die Regel: was mich von Anfang an nicht packt oder zumindest nicht anspricht, kommt mir nicht mehr ins Regal. Und eben deswegen bin ich für die Möglichkeit dankbar, bei den üblichen Verdächtigen im Net streamen und hören zu können und für mich zu entscheiden: dieses und jenes packt mich gleich oder hat die große Chance, sich noch zu entwickeln. Innerhalb meiner angestammten Ackerflächen zumindest weiß ich allerdings schon ziemlich genau, was für mich in Frage kommt und was nicht. Da gibt es natürlich durchaus auch öfter mal die Möglichkeit, quasi blind zuzuschlagen und zu wissen: dat läuft.
Zitat von victorward im Beitrag #158Ich versuche den Reflex in möglichst viele Neuheiten reinzuhören irgendwie beizukommen und diesbezüglich gelassener zu werden ... bevor ich irgendwann noch in Therapie muss. 2019 war mir das teilweise wirklich zu viel des Guten.
Alleine deshalb kaufe ich mir schon physisch Musik, weil ich diesen Platten dann doch deutlich mehr Aufmerksamkeit schenke. Sobald was daheim herum steht, bekommt diese Musik auch die nötige Aufmerksamkeit.
Ein gekauftes Album pro Woche empfinde ich auch eher als wenig ... und zumindest einen guten Fahrplan
2019 war für mich ein extrem gutes Jahr...wie schön, dass "Exoterik" schon am Anfang rauskam, mit dem hatte ich viel Spaß.
Aber mit insgesamt über 50 Neuerscheinungen und nochmal so vielen Alben aus anderen Jahren und Boxsets, bin ich dieses Jahr an meine Grenzen gestoßen. So 50 - 70 Alben im Jahr geht ganz gut zum anhören.
Dreimal anhören reicht mir für ein Album aus, und umso besser es mir gefällt, umso öfter höre ich es.
Das neue Glass Beach Album hab ich z.B. auf youtube schon dreimal durchgehört und bekomm es aber erst Ende Januar als Doppel LP...darauf freu' ich mich.
Thema drucken
Antworten
Exmusikpress.de - das Musikforum
»
Musik
»
Musikthemen
»
Altes vs. Neues ... oder insgesamt zu viel von allem?
20.01.2020 15:10 (zuletzt bearbeitet: 20.01.2020 15:14)
Foren-Chat
1
